Montag, 17. Dezember 2012

Neue Projekte, meine Kids und ich allein...

Zuckerhut im Morgennebel
 Vier Wochen sind dahin gerast, ich kann es kaum glauben. Es ist ja schon fast Weihnachten, wovon ich hier nur gelegentlich etwas mitbekomme, hier ein Kunststoffweihnachtsbaum, da ein Jingle Bells Geklimper oder die blinkende Weihnachtsbeleuchtung in den umliegenden Gemeinden, die ich von meinem Fenster aus sehe.
Ich glaube, ich habe es noch nicht erwähnt, aber inzwischen wird nicht mehr generell die Bezeichnung „Favela“ für die Armenviertel insbesondere an den Hügeln Rio’s benutzt, sondern von der „Communidade“ (= Gemeinde, Kommune) gesprochen. Das ist nun die offiziell politisch korrekte Bezeichnung, da mit dem Begriff „Favela“ meist direkt mit Armut, Kriminalität und Drogen verbunden wird. Die positive Entwicklung, die damit erreicht werden soll, wird durch den neutralen Begriff „Gemeinde“ gestützt. Wie positiv das alles unterm Strich aussieht, ist von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich, je nachdem, wer dort tatsächlich das Sagen hat und wie stark die Korruption noch greift, entwickelt sich alles zum Besten der Bewohner oder auch nicht. 
In den letzten Wochen waren meine Kollegin Viviana und ich viel bei unseren Projekten zu Besuch, weil wir zum einen alle zwei Wochen neue Volunteers bekommen, die wir an ihrem ersten Tag dorthin begleiten müssen und zum anderen, weil es ein paar neue Projekte gibt, bei denen wir demnächst auch Volunteers platzieren werden.
Eines dieser neuen Projekte bzw. neue Partnerorganisation ist Nova Chance („Neue Chance“) und hat eine erstaunlich gute Infrastruktur in zwei verschiedenen Gemeinden: Tuiutí und Mangueira. Mangueira hat auch eine der größten und besten Sambaschulen Rio’s und liegt im nördlichen Rio, wie die meisten unserer Partner. Es gibt jeweils ein Gebäude mit verschiedenen Räumen, die teilweise schon gut bestückt sind, z. B. als Klassenraum für Englischunterricht, ein „Sportraum“ für Kampfsport oder Yoga, ein Raum mit gespendeten gut erhaltenen Computern für Infomatikunterricht, sogar ein Arztzimmer mit einigen Untersuchungsplätzen und einen Physiotherapieraum mit Grundausstattung und nicht zuletzt einen kleinen Beton-Fußballplatz in Tuiutí und ein Fußballfeld auf Lehm etwa in Trainingsplatzgröße in Mangueira. Was fehlt, sind Volontäre, die hier helfen. Deshalb hat uns jemand mit dem wunderbaren Ely, Gründer und Direktor dieser Organisation, in Kontakt gebracht. Nach einem ersten Meeting sind Vivi und ich also dorthin gefahren, um festzustellen, dass es hier vor allem großen Bedarf an freiwilligen Helfern gibt: Ärzte, Medizinstudenten, Fußballtrainer, Physiotherapeuten, Lehrer für Englisch, Computernutzung, Rückengymnastik, Yoga, Kampfsport, Musik usw., und auch Handwerker werden benötigt, da es noch einiges zu installieren gibt. Falls also jemand Interesse hat, mal hier als Volontär ein paar Wochen oder Monate zu verbringen, gerne bei mir melden.
Eine unserer sehr bedürftigen Organisationen ist IASESPE in Bonsucesso, der unteren Siedlung der großen Gemeinde „Complexo do Alemao“, was einige von Euch vielleicht schon mal gehört haben. Hier gab es im November 2010 schlimme Kämpfe, als Polizei- und Militäreinheiten die Gemeinde stürmten und letztendlich „befriedeten“. Seit über einem Jahr gibt es hier nun eine Seilbahn, die über insgesamt sechs Stationen Menschen, Einwohner sowie auch Touristen, in Gondeln rauf und runter „schweben“ lässt. In der unteren Siedlung also, Bonsucesso, ist unsere Partnerorganisation IASESPE. Hier haben wir zur Zeit drei Volontäre platziert, die eine wunderbare Arbeit insbesondere hinsichtlich der Weiterentwicklung der Organisation im Bereich Spendenaufrufe, Aktivitätenangebot und allgemeine Unterstützung leisten. Einer der Volontäre hat einen tollen Film gemacht, an dem noch einige Volontäre beteiligt waren, sehr emotional, aber auch sehr nah an der Realität. Da der Film Musik enthält, kann man ihn leider aus GEMA-rechtlichen Gründen in Deutschland nicht sehen, es sei denn, ihr wisst wie man sich ein „Schein-Konto“ für die USA auf Youtube einrichtet, versuchen könnt Ihr es, hier ist der Link zum Film: https://www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=ic_9UznkO1k
Dies sind wirklich tolle Volunteers, die sich sehr proaktiv in ihr Projekt integrieren und einbringen konnten. Das ist nicht immer der Fall. Viele kommen hier mit sehr romantischen Vorstellungen her, wie z. B., dass man glücklich lächelnd zwischen unglücklichen und armen, aber lächelnden, dunkelhäutigen Kindern sitzt und klar gestellte Aufgaben hat. Das ist hier nicht so, denn einige der Organisationen sind teilweise noch unstrukturiert und nicht gut organisiert und es braucht wirklich große und viel Eigeninitiative, um wirklich zu helfen. Volunteers, die nur für zwei oder drei Wochen herkommen (und oft auch eigentlich eher Ferien machen wollen), werden deshalb eher auf die Projekte platziert, wo die Aufgaben klarer gestellt werden, wie z. B. in Kinderkrippen mit regelmäßigem Tagesablauf oder Sportunterricht mit regelmäßigen Einheiten.
Ich betreue im Moment 18 Volunteers, die meisten sind ruhig, verhalten sich unseren Regeln entsprechend gut, der eine oder die andere hat mal dies oder jenes zu zetern oder tanzt mit irgendwas aus der Reihe, einige wenige sind schwierig, jammern auf hohem Niveau über langsame Internetverbindungen oder kalte Duschen (alles alltägliche Problemchen für ganz viele Menschen hier…). Ich mache diesen Job gern, einfach, weil ich gerne für die Kids da bin, manchmal nerven sie unglaublich, aber im Grunde hab ich alle gern und da ich keine eigenen Kinder habe, fühlt es sich oft so an, als hätte ich hier auf einmal ein ganzes Haus voll davon. Und manchmal möchte ich am Ende einer Woche am liebsten keins von ihnen mehr sehen und hören… An den ersten drei Januarwochenenden kommen etwa 35 neue Volunteers an, meine Kollegin Vivi ist bis zum 13. Januar noch im Urlaub, das wird ein Riesenspaß… und alles hört auf mein Kommando! Mal sehen, wie das so wird…
Wenn ich frei habe am Wochenende, gehe ich eigentlich am liebsten an den Strand in Ipanema oder neuerdings auch einen weiter in Leblon. Das tut echt gut, so ein Tag am Meer, da lade ich mich auf mit ganz viel guter neuer Energie und genieße einfach zu „sein“ und freue mich darüber, dass ich hier bin.
Abends gehe ich mal mit Freunden zu lustigen Straßenmusiken, immer irgendwas Samba-artiges, denn es geht ja schon auf Karneval zu, oder einfach gemütlich essen oder auch nur ein Bierchen, Kino auch immer mal wieder oder ich falle auch manchmal einfach schon um 21 oder 22h total erschöpft ins Bett. Letzteres passiert oft nach langen Tagen und Wegen mit Bussen und zu Fuß zu Projekten, das ist bei der Hitze, im Moment immer zwischen 30 und 35 Grad superanstrengend. Man ist von Santa Teresa aus zwischen 1 und 2 Stunden zu den Projekten unterwegs, wenn man nicht im „Formel1-Bus“ durchgerüttelt wird, läuft man längere Strecken. Und ich staune und mache immer noch das „Connie-mit-großen-überraschten-Augen-Gesicht“, wenn die Busfahrer so schnell um alle Ecken und Kurven heizen, dass ich uns manchmal schon vor die nächste Hauswand oder Leitplanken ticken sehe, aber es geht immer gut.
Letzte Woche hatten wir dann auch noch ein Filmteam von unserem größten internationalen Partner hier. Die haben Aufnahmen für einen Trailer über unsere Volunteer Programme gemacht und mussten an zwei komplett durchorganisierten Tagen vier oder fünf Projekte besuchen, 5 oder 6 Volunteers interviewen und die Volunteers in ihrem alltäglichen Leben filmen. Das war sehr spannend, besonders am zweiten Tag, als meine wunderbar durchdachte Organisation durch verschiedene kleine Ausfälle bzw. Aussetzer von involvierten Personen bei den Projekten zum Teil durcheinander geschmissen wurde. Aber das ist ja hier normal und damit muss man immer rechnen, man macht einfach weiter, da und so wie es geht. Letztendlich hat alles geklappt, wir haben ein dickes Lob für unsere Vorbereitung und auch allgemein für unsere Arbeit mit den Volunteers bekommen vom Chef der Partnerorganisation. Am ersten Abend gab es eine schöne Strandparty mit allen zusammen in Ipanema zum Sonnenuntergang und am zweiten Abend war ich beim gemeinsamen Abendessen so platt, dass ich nach dem ersten Bier dachte, mich hat ein Holzhammer getroffen – ich konnte und wollte nicht mal mehr sprechen, alles war auf null.
Nach einem anstrengenden Rest der Woche habe ich es dann gestern, am Samstag, ganz, aber ganz langsam angehen lassen: ausschlafen, Frühstück, lesen im Lieblingscafé (mein Harvey’s Ersatz J ), Lavradio Arts&Crafts Markt in Lapa, danach Thais‘ Bazar in meinem ersten Zuhause, Massage, neue Menschen getroffen und nach einem Bier schon wieder fast im Tiefschlaf.
Ach ja, umgezogen bin ich ja auch vor zwei Wochen. Jetzt wohne ich weiter oben in Santa Teresa, dort, wo ich schon einmal in 2010 wohnte. Ich habe ein schönes Zimmer, nur leider keine Terrasse mehr mit Pool, weil es in einem Apartment ist. Die Vermieterin ist auch eine Freundin, hat inzwischen zwei Kinder und geht jetzt selbst für 6 Wochen etwa zu ihrer Familie in Porto Alegre. Ab morgen wohne ich dann hier mit zwei Jungs, ein deutscher Kollege aus MG und ein Amerikaner aus Greenville, alle ganz nett und ordentlich – bisher. Aber ich habe so im Gefühl, dass ich noch einmal umziehen werde…
In der vergangenen Woche waren Freunde aus der Frankfurter Sangha hier in Rio. Zwei Freundinnen im Urlaub und ein Freund, der Flugbegleiter bei LH ist und herfliegen durfte mit zwei Tagen Aufenthalt. Das war sehr schön, mal mit Freunden in der vertrauten Sprache zu sprechen, vertraute Umarmungen und gute Energien aufzuladen. Wir waren alle zusammen abendessen in Ipanema und ich habe das sehr genossen und war sehr dankbar für diese Momente. Immer wieder werde ich gefragt, ob ich hier nicht manchmal „einsam“ bin. Ja, das kommt vor, aber es ist eher ein Gefühl, also nicht als reale Einsamkeit, sondern von plötzlichem Alleinsein überrascht, das z. B. nach einigen langen Tagen mit vielen Menschen aufkommt, wenn ich plötzlich am Samstag allein bin, keine Verabredung habe und mich erstmal allein ohne ständige Kommunikation neu aufladen muss und natürlich auch möchte. Aber nach einer Stunde mit mir allein sind diese Schleier verschwunden und ich genieße die freie Zeit, um mich mal nur um mich zu kümmern. Nutella hilft auch J - aber leider hat mein LH-Freund meine 1kg-Nutella-Bestellung vergessen, also muss ich das teure Nutella hier kaufen und gut rationieren für die „ich-will-aufn-Arm-Stunden“, wenn ich ein warmes Nutellaschnittchen brauche.
Heute gibt es nun auch ein paar Bildchen im Blog. Wenn Ihr mal etwas spezielles wissen möchtet, fragt mich einfach. Ansonsten schreibe ich einfach immer das zusammen, was mir einfällt und erzählenswert erscheint. Und ich freue mich auch sehr über News von Euch, gerne mal sprechen über Skype.
In einer Woche ist Weihnachten und ich hoffe, es geht Euch allen gut und Ihr verbringt die Feiertage mit Euren Liebsten. Habt eine schöne Zeit, wo auch immer Ihr seid, ich denke an Euch und schicke meine allerbesten Wünschen und ein paar ganz schön warme Grüße und Küsse aus Rio!!!
Englischunterricht mit Volunteers

Ipanema Sonnenuntergang

Strandparty Ipanema




Meine Freundin Thaís

Victor zeigt uns seine Aussicht auf das Maracana Stadion

Victor trägt sein kaputtes Fahrrad :( (ich weiß nicht, wie man
es dreht)

nochmal Maracana Stadion



Fußballfeld in Tuiutí

Kaffeepause

Das Haus, das ich kaufen und renovieren würde...