Dienstag, 29. Juni 2010

Später Kulturschock, die Suche nach Entspannung und Fußball WM





Ja, es ist eigentlich viel zu lange her seit ich mal etwas berichtet habe. Eigentlich wollte ich etwa alle zwei Wochen ein paar Neuigkeiten schreiben, was leider nicht geklappt hat, weil mir ganz ehrlich „nicht der Kopf danach stand“ , denn ich wurde überrollt von einer Riesenwelle neuer Erfahrungen und auch alter Eindrücke in einem neuen Licht. Ich glaube, ich hatte schlichtweg einen kleinen Kulturschock.

Das lag wohl zum einen daran, dass man viele Dinge aus dem normalen Alltag heraus mit einer 40-Stunden-Woche aus einer neuen Perspektive sieht, schon allein, weil man nicht mehr ganz so entspannt ist. Zwar habe ich auch in den ersten drei Monaten immer viel zu tun gehabt, aber letztendlich war ich doch freier und konnte selber entscheiden, wann ich was mache und auch mal einen Tag einschieben, an dem ich gar nichts tue. Das geht nun nicht mehr. Meine Woche beginnt Montagmorgen um 9.00h und geht bis Freitagnachmittag, abgesehen von den Brasilien-WM-Spieltagen... Zum anderen war ich durch die angespannte Sicherheitssituation in dem Stadtteil, in dem ich wohne, irgendwie etwas paralysiert. Es kamen Zweifel auf, ob ich hier richtig bin. Aber das ist kein Grund aufzugeben, das gehört dazu, da muss man durch und letztendlich finden sich die Dinge irgendwie.

In der ersten Woche war Felipe, der Chef unserer Organisation Iko Poran, auch noch hier und hat mir das nötigste vor seiner Abreise erklärt. Da er selber so wahnsinnig aufgeregt war vor seinem Freiwilligeneinsatz bei der WM in Südafrika, war kaum ein konzentriertes Erklären möglich und es beschränkte sich auf ein paar Finanzdinge, die ich hier jeden Tag regeln soll. Das war aber bei weitem nicht alles, was ich eigentlich tun sollte. Mit meinem Kollegen Ingo besuche ich nach und nach alle Partnerorganisationen und deren Projekte, wo unsere Volontäre eingesetzt werden. Auch sonst hat Ingo mir vieles genauer erklären können. Wir sind nun seit vier Wochen beide als „Volunteer Coordinator“ unterwegs und halten alles während Felipe’s Abwesenheit in Gang. Das bedeutet für mich, dass ich mich um unsere aktuellen Volontäre, die gerade hier vor Ort sind, kümmere, und gleichzeitig die Korrespondenzen mit potentiellen und zukünftigen Volontären erledige. Wenn neue Volontäre anreisen, habe ich direkt am nächsten Tag ein Orientierungsgespräch mit ihnen, fast immer Samstag oder Sonntag, so dass sie sich in der Stadt und mit den Gegebenheiten besser zurechtfinden. Am Tag darauf begleiten wir die neuen Volontäre jeweils zum Projekt, bei dem sie eingesetzt werden. Viele unserer Partnerorganisationen sind in den Favelas im Norden von Rio und die Busfahrten dorthin dauern zwischen 30 und 90 Minuten. Die Volontäre werden vorgestellt und es wird besprochen, was sie genau tun werden und an welchen Tagen und wie lange sie jeweils dort sein sollen. Einige geben Englischunterricht für Kinder und junge Erwachsene, basteln mit den Kindern oder trainieren mit Jungen- und Mädchengruppen Fußball, sie geben Tanzunterricht oder betreuen auch in einigen Projekten ganz kleine Kinder. Einige Projekte sind schon ganz gut entwickelt und freuen sich über neue Ideen, die unsere Volontäre mitbringen. Alle Volontäre geben mit ihrem Einsatz auch eine Spende zwischen € 90,00 und 180,00 ab oder bringen auch selber Material für kreatives Handwerk mit. Die Begeisterung ist meistens auf beiden Seiten groß. Ich stehe so viel wie möglich in Kontakt mit den Volontären und bin als Ansprechpartner bei Fragen und Problemen immer zur Stelle. In der Regel läuft aber alles immer gut, selten gibt es Unzufriedenheit oder Unstimmigkeiten und beide Seiten lernen vieles voneinander. Soviel zu meiner Arbeit.

Wie ich ja schon berichtet habe, wohne ich diesmal in Santa Teresa, ein sehr schöner alter Stadtteil von Rio, etwa 12 km z. B. von der Copacabana bzw. Ipanema entfernt. Meine Vermieterin Denise hat in meiner ersten Woche hier eine schöne neue Wohnung gefunden, so dass wir in der zweiten Woche schon wieder umgezogen sind. Größer, schöner und sauberer wohnen wir jetzt. Man lernt hier schnell die Einwohner kennen, die man abends hauptsächlich z. B. in der Bar do Gomez oder im Restaurant Simplesmente antrifft. Nach ein paar Wochen kennt man fast jeden zumindest vom sehen. Schön ist auch, dass man eigentlich fast jeden auf der Straße grüßt, bekannt oder nicht, spielt keine Rolle, man begegnet sich mit „Bom dia“ oder „Boa tarde“ oder „Boa noite“, je nach Tageszeit. Mein Weg zum Büro dauert etwa 10 Minuten und macht mir bei schönem Wetter auch richtig Freude, weil die meisten Menschen so freundlich sind. Mittags gehen Ingo und ich meistens in einem der Restaurants ein „Prato feito“ essen. Das ist ein typisches Mittagsgericht und man hat die Wahl zwischen gebratenem Fleisch oder Hühnchen, Hähnchenfilet, Schweinefleisch oder Fisch und dazu gibt es IMMER Reis, schwarze Bohnen, Gemüse, Salat, oft auch noch Kartoffeln oder Spaghetti. Das klingt eintönig, aber man gewöhnt sich daran, es ist immer reichlich und es ist sehr billig mit etwa zwischen € 4,00 und 7,00. An manchen Tagen essen wir auch einfach schnell ein oder zwei „Salgados“, das sind die leckeren, oft von den Frauen, die sie verkaufen, selbst gemachten fritierten salzigen Teilchen mit Hühnchen, Käse oder Fleisch gefüllt. Dazu gibt es ein „Guarana Natural“, ein leckeres und gesundes Saftgetränk, das ganze für etwa € 2,00, macht auch satt, aber nicht so lange.

Jetzt bin ich ein wenig vom eigentlichen Thema, nämlich Santa Teresa, abgekommen. Es ist also sehr schön hier, wobei ein entscheidender Nachteil für mich persönlich eigentlich die Entfernung zum Strand bzw. nach Ipanema, wo es mir so gut gefällt, ist. Leider war es diesmal nicht möglich, dort zu wohnen, da ich dadurch einfach zu hohe Kosten für Bus und Metro gehabt hätte und jeden Tag etwa zwei Stunden oder auch mal mehr unterwegs gewesen wäre. Dazu noch die Fahrten mit den Volontären, die ich auch selber tragen muss, hätte es einfach nicht in mein Budget diesmal gepasst. So schön Santa Teresa ist, fühlte ich mich aber auch lange Zeit dort sehr unsicher und wie eingesperrt, da ich mir immer genau überlegen muss, wie ich wann wohin gehe oder fahre, es früh dunkel wird und es auch wieder vermehrt Überfälle gab. Das hat mich schon sehr belastet, aber mittlerweile komme ich mit der Situation ganz gut zurecht und empfinde nicht mehr eine ständige latente Bedrohung. Im Dunkeln nehme ich immer Bus, Kombi oder zu späterer Stunde auch Taxi, alles nicht zu teuer, aber das ist mir meine Sicherheit auch wert. Die meisten Taxifahrer warten sogar bis man im Haus angekommen ist. Dazu fällt mir dann auch die Geschichte mit der Polizei hier ein, als mich eben einer jener netten Taxifahrer direkt vor meiner Tür ablieferte. Da ich in Fahrtrichtung links wohne, ist er links heran gefahren, was eigentlich total egal ist, weil hier sowieso jeder hält und fährt wo er will. Ich hatte gerade bezahlt, als direkt neben uns aus der Gegenrichtung ein Polizeiwagen hielt und einer der Polizisten ein Riesenmaschinengewehr durch das offene Fenster in das Taxi auf den Kopf des Taxifahrers hielt, um mal zu fragen, warum er denn wohl jetzt hier auf der linken Seite stünde, ich habe nur noch gehört, wie der Taxifahrer, der gerade sein Geld wieder wegpackte, erklärte, „er wolle doch nur das Mädchen hier rauslassen, weil sie hier wohnt“, bin langsam aus dem Wagen gestiegen und ins Haus gegangen. Es tat mir so leid und ich hoffe, sie haben dem Mann sein Geld gelassen, aber ich weiß, wie korrupt und brutal die Polizei hier ist und da war mir meine eigene Sicherheit wichtiger als die Heldin zu spielen und mich da einzumischen. Kein schönes Gefühl zu wissen, dass die Polizei einem hier eigentlich nicht hilft, sondern eher auch eine potentielle Gefahr darstellt.

Um uns herum gibt es auch einige Favelas, in denen es oft unruhig ist. Mal gibt es am Wochenende laute, durch das ganze Tal schallende „Baile Funk Parties“ (ein sehr „kraftvoller“ Musikstil, ein paar davon ganz cool, wenn man mitfeiert) oder auch mal Schießereien oder beides gleichzeitig. Am vorletzten Wochenende war so eine Party mit Schießerei und nachdem ich um 3.00h aufwachte, immer noch unser Haus von der Musik vibrierte und Schüsse fielen, habe ich bösartig gedacht „Kann nicht mal einer den DJ erschießen…?“ Für uns besteht keine Gefahr, wir wohnen hoch am Berg. Manchmal gibt es früh morgens Polizeiinvasionen aus der Luft, dann kreisen Hubschauber über der Favela, schießen mit schweren Maschinengewehren und das in Intervallen etwa eine Stunde lang. Ich gehe dann nicht ans Fenster zum Zuschauen, um zu sehen, ob es wirklich 4 Hubschrauber sind (so hört es sich an), denn das ist mir dann doch zu gefährlich. Man sagt, dass es sich dabei um eine Art Rache Aktion handelt, weil wieder ein Polizist erschossen wurde.

So habe ich also in den ersten Wochen versucht und es geschafft, so gut wie möglich mit der Situation zurecht zu kommen. Jedesmal, wenn ich am Wochenende an die Copacabana oder nach Ipanema fahre oder auch nur mal runter in die Stadtteile Gloria oder Catete komme, fühle ich mich schon viel freier. Dort ist einfach mehr los, dadurch fühlt man sich auf den Straßen sicherer, es gibt viele Geschäfte und Bars und man ist auch direkt an der Metro nach Ipanema. Und nach wie vor finde ich Rio eine großartige Stadt, aber man muss sich mit einigen Dingen ab- oder zurechtfinden, um hier heimisch zu werden.

Eine andere Sache sind die „Carioca“, so heißen die gebürtigen Einwohner von Rio. Sie sind an sich ein fröhliches und aufgeschlossenes Völkchen. Es scheint, man macht leicht Freunde, das ist aber nicht der Fall. Für unsere deutschen Verhältnisse sind sie sehr oberflächlich und reden vieles, das sich anhört, als hätte man einen neuen Freund gefunden, aber meist kommt danach gar nichts. Aussagen wie „ich rufe dich an“ oder „wir sehen uns bald wieder“ oder „komm mal auf einen Kaffee vorbei“ bedeuten fast immer gar nichts außer „war nett, dass wir uns kennengelernt haben, vielleicht sehen wir uns in diesem oder im nächsten Leben mal wieder“. Oft kennen sie einen bei der nächsten Begegnung gar nicht mehr, geschweige denn, dass sie noch den Namen wüssten. Natürlich sind nicht alle alle so und die Carioca lästern auch selber gerne über ihre schlimmen Carioca Mitbewohner, aber es ist sicher ein Teil der Mentalität, die wir Deutschen mitunter als sehr nervend ansehen, genauso wie die permanente Unpünktlichkeit. Und dabei rede ich nicht von 15 oder 30 Minuten, nein, es geht oft um Stunden. „Gut erzogene“ oder vielgereiste Carioca haben zumindest Verständnis für unser Unverständnis, was aber nicht heißt, dass sie, nur weil sie mit einem Deutschen verabredet sind, auch pünktlich kommen. Aber einige geben sich durchaus Mühe und rufen bei Verspätung wenigstens mal an. Und Brasilianer können auch unglaublich böse fluchen und dann sind sie gar nicht mehr die lustigen offenen Menschen, als die man sie überall in der Welt sieht, das kann richtig unangenehm werden, wenn es einem auch eher selten begegnet. Carioca sind im übrigen auch sehr stolz, ein bisschen eingebildet und suchen in allem immer irgendeinen eigenen Vorteil oder einen Profit, den sie für sich davontragen können.
Trotz allem mag ich die Menschen, denn alle Völkchen haben ihre Macken, ihre lustigen und nervigen, und ihre guten und blöden Seiten, wobei das ja immer ein Gefühl und eine Sicht aus einer anderen Kultur heraus ist. Also entspanne ich mich meistens und nehme sie wie sie sind. An manchen Tagen kriegt man aber manchmal eine „Brasilianer-Krise“ und dann sind alle eben mal doof.

Fußball ist natürlich ein Riesenthema hier, wie wir ja schon wussten. An Spieltagen der brasiliansichen „Seleção” hört eigentlich 1 – 2 Stunden vor dem Spiel alles auf zu arbeiten und nur teilweise wird danach weitergearbeitet. Die ganze Stadt setzt sich in Bewegung, um rechtzeitig irgendwo zum Spiel anzukommen. Bei den frühen Spielen fängt erst kaum einer an zu arbeiten. Taxi- und Busfahrer haben kleine TV Geräte dabei, fast alle Menschen tragen gelbe oder grüne Shirts, Kinder und Hunde werden in fantasievollen Bekleidung in denselben Farben gesteckt, Straßen wurden schon lange vor der WM gelb-grün-blau geschmückt und bemalt, an manchen Ecken werden mitten auf dem Bürgersteig einfach Fernseher an die Steckdose und Antenne des nächstliegenden Hauses angeschlossen. Alle Bars und Restaurants sind voll und sei der Fernseher noch so klein. Schon von Anfang an erwartete man eigentlich den „Hexa“, also den sechsten WM-Titel, viele Shirts sind bereits mit 6 Sternen bedruckt und nach diesen ersten Spielen ist man sich irgendwie schon fast sicher, dass Brasilien Weltmeister wird. Alemanha ist auch sehr beliebt, naja, unsere Mannschaft hat ja auch richtig gute Spiele abgeliefert und das könnte ja noch ein Finale Brasil x Alemanha werden. Fest steht, dass beim Viertelfinale Deutschland x Argentinien alle Brasilianer für uns jubeln werden, da es ja diese alte „Feindschaft“ mit Argentinien gibt.
Ich habe bisher alle Spiele bis auf das verlorene der DFB Elf in der Bar do Gomez gesehen. Dort sind wir mittlerweile ein lustiger Kreis von etwa 8 deutschen Fans und ich bin jedesmal soooo aufgeregt und dann soooo glücklich. Das Viertelfinale werde ich wahrscheinlich am Strand von Copacabana anschauen, dort ist das offizielle FIFA Fan Fest Gelände und sicher ein Haufen deutscher Fans aus ganz Rio. Und dann haben wir hoffentlich wieder ordentlich was zu feiern.

Seit dem letzten Wochenende fühle ich mich wieder richtig wohl, Santa Teresa wirkt nicht mehr so bedrohlich, ich habe neue Freunde gefunden, gehe mehr aus und bewege mich wieder entspannter. Samstag war ich einen ganzen schönen Tag am Strand von Ipanema, da habe ich mich wieder erinnert, warum ich so gerne hier eine längere Weile oder vielleicht für immer leben möchte. Also auf zu neuen Wegen bzw. meinem folgen. Ich halte die Augen und Ohren offen, was sich bietet und ergibt, vielleicht schaue ich auch schonmal ein paar Häuser an.

Also, es bleibt spannend und geht immer weiter.